101 CHRIS MARKER


SS 2022

Chris Marker (eigentlich Christian-François Bouche-Villeneuve; 1921 - 2012) war Dokumentarfilmemacher und Reisender, Fotograf und Schriftsteller, fasziniert vom Computer, Meister der Pseudonyme. Er entzieht sich allen Einordnungen, lässt sich nicht fotografieren oder interviewen.

Wir zeigen die Trilogie seiner Meisterwerke: vier Filmessays über den Umgang mit Zeit und über das Verdrängen von Tragödien, im Privaten wie im Öffentlichen.

Zum 101. Geburtstag von Chris Marker erzählt Thomas Tode, Filmkurator, Filmemacher, Filmwissenschaftler und Publizist, von seinen Begegnungen mit dem „elektronischen Eremiten“ Marker in Moskau und Paris. Er ist Autor zweier Bücher über Marker. „Chris Marker, Filmessayist“ (1997) und „Chris Marker, das Erbe der Eule“ (2019). Er wird zu allen präsentierten Filmen von Chris Marker eine Einführung geben und nach der Vorführungen mit dem Publikum diskutieren.

Kooperationspartner:


Institut Français in Berlin
Institut d’Etudes Français in Saarbrücken
HBKsaar
xm:lab - Experimental Media Lab der HBKsaar
Union Stiftung e.V.

Programm:

Dienstag 3.05.2022, 20.00 Uhr

Lettre de Sibérie (Briefe aus Siberien)
Chris Marker 1958, 62 Min., DCP, Original mit englischen Untertiteln

Ende August 1957 unternimmt Chris Marker, begleitet von Freunden, auf Einladung der Kulturabteilung des sowjetischen Außenministeriums eine zweimonatige Filmexpedition nach Sibirien. Auch wenn Marker mit der kommunistischen Idee sympathisiert, liegt ihm die Ästhetik des Sozialistischen Realismus fern. Stattdessen heißt es: "Ich schreibe Ihnen aus einem fernen Land." Der Satz kehrt in abgewandelter Form mehrfach wieder. Marker kommentiert mit Witz, Ironie und Intelligenz eigene Aufnahmen und weiteres disparates Material: einen Animationsfilm mit einem Mammut, selbst fabrizierte Werbespots, Exkurse ins Tierreich (Bären) und zu sibirischen Goldgräbern. Mit diesem Film erfindet er eine neue, vielbeachtete essayistische Filmform, als Mosaik von Eindrücken und Reflexionen, in denen auch die eigene Beobachterrolle und die Ambivalenz des Gefilmten hervortritt.


La Jetée
F 1962, 28 Min, 35mm, deutsche Fassung

Legendärer, nur aus überblendeten Fotografien bestehender Science-Fiction-Essay. Unter der Erde im atomkriegsverseuchten Paris experimentieren Überlebende mit einem Gefangenen, um in der Zeit zu reisen. Durch seine Erinnerung an ein besonders starkes mentales Bild, das Gesicht einer geliebten Frau, gelingt es ihm, in die Vergangenheit zu fliehen und sie zu treffen. Die Fähigkeit der Erinnerung, Zeiten und Räume zu vergegenwärtigen, zeigt sich in der einzigen bewegten Filmaufnahme: dem Augenaufschlag der geliebten Frau.

Mittwoch, 4.05.2022, 20.00 Uhr

Sans Soleil (Ohne Sonne)

F 1982, 100 Min, 35mm, deutsche Fassung

"Virtuos von Japan über Guinea-Bissau nach Island streifender Filmessay. Getarnt als Expeditionsbericht eines Kameramanns, tatsächlich permanente Kursabweichung und glückbringende 'Zerstäubung des Ich'. Wo vertraute Koordinaten außer Kraft gesetzt sind, kann er die Suche nach den "Dingen, die das Herz schneller schlagen lassen", aufnehmen und sich dem
Erinnerungsstrom eines vagabundierenden Gedächtnisses überlassen. Markers in Briefform gehaltene Reflexionen sind weniger klassischer Reisefilm, denn ein kühner Versuch über das Funktionieren von Erinnerung in kinematografischer Form. Mit vergleichsweise simplen Mitteln hergestellt (auf 30-Meter-Filmrollen gedreht, ohne Synchronton, ohne Team), verblüfft SANS SOLEIL bis heute durch seine virtuosen Perspektivenwechsel und Zeit-Schichtungen – es ist ein Film, der sich zuletzt 'selbst erinnert'. Abgesehen von der Filmkritik hat SANS SOLEIL unzählige andere Disziplinen herausgefordert, von der Medientheorie bis zur Gedächtnisforschung. Entstanden an der Schnittstelle von analoger zu digitaler Arbeitsweise, ist der Film im Schaffen Markers ein Wendepunkt, hin zu multimedialen Formen, und eine letzte Hommage an die Bedeutung, die Textur und die Schönheit des Film-Bildes. Ein Meisterwerk." (Constantin Wulff, Österreich. Filmmuseum Wien, 5/2007)

 

Donnerstag 5.05.2022, 20.00 Uhr

Level Five
F 1996, 106 Min, DCP, Original mit deutschen Untertiteln

"Ein Film, der sein Thema aus einer virtuellen Versuchsanordung filtert: Sein dramaturgischer Dreh- und Angelpunkt ist ein Computerspiel, das die Schlacht von Okinawa detailliert nachzugestalten versucht; alle Truppenbewegungen und Flugzeugangriffe, nicht zuletzt den massenhaften Selbstmord der Zivilbevölkerung. Rund 150.000 Frauen, Männer und Kinder nahmen sich 1945 das Leben, auf Anordnung der japanischen Armee. Niemand, so die wahnwitzige Parole, sollte den Amerikanern in die Hände fallen. Ein Mann hatte das Spiel entwickelt, aber nicht zum Abschluss gebracht: Der Tod schob sich vor die Vollendung. Nun sitzt seine Geliebte vor dem Computer, Laura mit dem schönen, sinnlichen Mund. Sie trat das Erbe an, der Schlacht auf dem Bildschirm zu einem Ende zu verhelfen. Die Aufgabe wiegt schwer, denn die Katastrophen von damals sollen jetzt umgemünzt werden. Der Auftrag lautet, die Historie zum Guten umzuschreiben, mit zusätzlichen Truppen für die unterliegenden Japaner oder welchen anderen Tricks auch immer. Doch der Computer verweigert sich diesem Ansinnen und stürzt ab: 'Fehler 14 ist eingetreten' oder 'Zugriff verboten'. Das Spiel mit der Realität funktioniert nicht gegen sie, weder im Leben noch nach dem Tod. Ein pessimistisches Alterswerk, geprägt von einem tiefen Misstrauen gegen die Medien, das sich mit vielen Anspielungen, Bezügen und Querverweisen zu einem ebenso anspruchsvollen wie faszinierenden, gewiss nicht immer leicht verständlichen Vexierbild verdichtet." (Ralf Schenk, filmdienst.de)

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